Sylvester

Die letzten Tage waren wie immer..mein neuer Alltag eben. Bruder kommt jeden Tag, alle paar Tage andere Familienmitglieder. Auch Freunde schauen mal rein. Gestern waren „Alt“Freunde da. Freunde die Schatz schon seit ewig kennt. Die Nächte sind besser zur Zeit. Durch das Fentanyl Nasenspray ist er viel ruhiger und schläft viel mehr. Morphium donnert ja auch einen weg…Schmerzen sind viel besser geworden, nur die Übelkeit ist noch da. Er musste aber bisher nicht mehr brechen..

Die Ärztin war gestern da um den neuen Medikamentenplan zu besprechen. Im alten wurde zu viel rumgekritzelt und ist unübersichtlich geworden.

Blut spuckt Schatz im Moment nicht mehr so arg. Jeden Abend fleht er mich an ihm doch zu helfen. Ich kann ihm nicht helfen, es tut so weh…ich soll es beenden..ich würde es tun – ich habe es ihm versprochen…aber es ist in Deutschland verboten..jeder Köter wird eingeschläfert, wenn er leidet. Aber Menschen die darum flehen, wird das Leiden nicht erspart…könnte kotzen…es sollte mal einer von denen, die darüber entscheiden, einen Angehörigen durch das Krebsleiden bringen…dann denken die doch vielleicht mal anders darüber…

Im November wurde wieder mal neu darüber diskutiert. Die Gegner argumentieren mit so bescheuerten Sätzen wie: Es würden einem eventuell noch schöne Momente genommen…nee ist klar…wenn aber einer jeden Tag darum fleht gehen zu dürfen und nicht leiden zu müssen und dahin siechen zu müssen – wo sind da schöne Momente??? Sicherlich gibt es sie..ich erlebte sie ja auch…aber hat es nicht mehr Gewicht einen Menschen VOR ALLEM WENN ER ES DOCH WILL gehen zu lassen in Würde? Es muss ja nicht für jeden gelten…aber für Menschen die unheilbar krank sind..deren Ende absehbar ist…warum dürfen die nicht gehen, wenn sie es wollen…

Heute haben wir den letzten Tag des Jahres

Ich habe gar keine Lust auf Sylvester. Es endet heute der Kalender. Kein Spaß heute, keine Freude, keine Zuversicht aufs neue Jahr. Mein Jahr endet beschissen und es geht morgen im neuen Jahr beschissen weiter..

Ich bin ein sehr abergläubiger Mensch. Ich habe die Verbindung zur Magie verloren…mit jedem Tag entferne ich mich weiter von der Magie. Mit jedem Tag verschwindet das Glitzern ein wenig mehr. Mit jedem Tag wird das Funkeln  blasser…die ganzen Rituale und Brauchtümer haben mir immer Spaß gemacht und ich habe sie zelebriert…jetzt mache ich es aus trotz im Gegenteil.

Ich werde heute Wäsche waschen und sie aufhängen! Es soll ja Unglück bringen, über Sylvester Wäschen hängen zu haben. Aber wieviel Unglück soll denn in unser Heim noch kommen…ich fordere damit nichts heraus.

Es gibt die Magie. Sie ist um uns herum..ich habe die Verbindung zu ihr verloren..das Dunkle und trostlose ergreift Besitz von mir und ich wehre mich nicht. Ich neige nicht zur Depression…ich kann nur nicht begreifen, warum mir alles genommen wird..auf so grausame Weise. Was haben wir getan, um derartig bestraft zu werden?

Schatz weiß immer weniger…er sagt es mir oft. Ich spüre und erlebe es auch. Konnte er vorgestern mir noch „helfen“, versteht er heute nicht was ich von ihm möchte. zB – Wenn ich ihn im Bett etwas hochziehen möchte, hat er mir geholfen indem er sich mit seinem Bein abgestoßen hat. Heute hat er nicht begriffen was ich von ihm wollte. Selbst als ich es ihm erklärte und sein Bein führte – er hat es nicht begriffen. Auch mit dem Trinken klappt es heute nicht so. Er nimmt zwar seinen Strohhalm in den Mund, weiß aber nichts damit anzufangen. Ich zeige es ihm dann – es dauert ewig bis er es versteht..sein Geist, sein Wissen schwindet. Es dauert nicht mehr lange und er kann nicht mehr trinken…dann muss er an den Tropf, damit er nicht austrocknet..

Auch kann ich nicht sagen, wie lange er mich noch erkennt. Er erkennt schon noch Leute die kommen. Aber gestern fragte er, wer „er“ ist und ich sagte, es ist dein Bruder *Name*..dann wusste er es wieder. Aber es kann sein, daß er irgendwann, nicht allzu fern, nicht mehr weis wer da sitzt…oder gar wer ich bin…eine Metastase wächst in sein Wissenszentrum und zerstört alles das was ihn ausmacht, was er weis – wer er ist…

Warum darf er nicht gehen…warum muss er so leiden…er ruft immer nach mir…Baby, mit schwacher Stimme, Baby – helf mir bitte…helf mir doch…und dabei sieht er mich an mit einem Blick den ich nie vergessen werde. Diese flehenden Augen..sie sind müde, er ist fast nicht mehr da…

Es zerreisst mich…

Wünsche allen meinen Lesern einen guten Rutsch…passt auf euch auf und achtet eure Partner…das Leben kann sich innerhalb einer Sekunde ändern…schätzt das Leben mit jedem Augenblick und seht nichts als Selbstverständlich an.

Bis dann

 

Ein Gedanke zu “Sylvester

  1. Will was schreiben und Dir einen guten Rutsch wünschen und schlag mir schon auf die Finger .weil ich mich nicht traue. .Wie ein Hohn würde die Zeile zu Dir finden.
    Aber ich kann doch nicht so trauriges lesen und umschalten. Das ist doch alles so gemein,was Du erlebst. Vielleicht kann ich ein kleines Fitzelchen Trost geben; wenn ich sage das ich auch froh wäre wenn Deinem Schatz „geholfen“ würde .Denn vielleicht ist es so wie Du schreibst und er erkennt Dich bald nicht mehr. Und das wird dann wieder eine noch tiefere Wunde in dein Herz schneiden.In dein Herz das so viele Schnitte und Narben hat. Ich denke an Dich. Pamela.

    Gefällt 1 Person

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